Vilem Flusser – bodenlos –

EINE PHILOSOPHISCHE AUTOBIOGRAPHIE

Einleitung

Das Wort »absurd« bedeutet ursprünglich »bodenlos«, im Sinn von »ohne Wurzel«. Etwa wie eine Pflanze bodenlos ist, wenn man sie pflückt, um sie in eine Vase zu steilen. Blumen auf dem Frühstückstisch sind Beispiele eines absurden Lebens. Wenn man versucht, sich in solche Blumen einzuleben, dann kann man ihren Drang mitfühlen, Wurzeln zu schlagen und diese Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben. Dieser Drang der entwurzelten Blumen ist die Stimmung des absurden Lebens. 

Das Wort »absurd« bedeutet in der Regel »bodenlos«, im Sinn von »sinnlos«. Etwa wie das Planetensystem bodenlos ist, wenn man fragt, warum und wozu es sich um die Sonne dreht in der gähnenden, abgründigen Leere des Weltalls. Merkur und Venus auf ihren Bahnen sind Beispiele eines absurden Funktionierens. Betrachtet man die Planeten von diesem Standpunkt, ist man verleitet, ihr System mit den verschiedenen Verwaltungssystemen zu vergleichen, in denen sich ein großer Teil unseres Lebens abspielt. Die sinnlose Kreisbewegung, mit dem Nichts als Hintergrund, ist die Stimmung des absurden Lebens.

Das Wort »absurd« bedeutet auch »bodenlos«, im Sinn von »ohne vernünftige Basis«. Etwa wie der Satz bodenlos ist, der behauptet, zwei mal zwei sei vier um sieben Uhr abends in Sao Paulo. Er ist ein Beispiel eines absurden Denkens. Man hat dabei das schwindelnde Gefühl, über einem Abgrund zu schweben, in dem die Begriffe »wahr« und »falsch« nicht funktionieren. (Der Satz ist bodenlos,weil es absurd ist, von ihm sagen zu wollen, ob er wahr oder falsch ist. Er ist beides und keines von beiden.) Dieses schwindelnde Gefühl ist die Stimmung des absurden Denkens. 

Die angeführten Beispiele aus der Botanik, der Astronomie und der Logik sind, wie gesagt, nichts als Versuche, in die Stimmung dieses Buches einzuführen. Eine Stimmung, die jeder gut aus eigener Erfahrung kennt, wenn er auch meistens versuchen mag, sie nicht zu Wort kommen zu lassen. Es ist die religiöse Stimmung. In ihr sind alle Religionen entstanden, denn Religionen sind Methoden, in der Bodenlosigkeit einen festen Halt zu bieten. Aber es ist auch die Stimmung, die alle Religionen gefährdet. Denn in ihr wird der Halt, den die Religionen bieten, von der ätzenden Säure der Bodenlosigkeit zerfressen. Im Grunde sind alle unsere Probleme religiöse Probleme, jedenfalls in folgender Hinsicht: Wenn wir uns in der Stimmung der Bodenlosigkeit befinden, dann suchen wir nach einer religiösen Lösung unserer Lage, ohne sie finden zu können. Und wenn wir sicheren Boden unter den Füßen fühlen (sei es dank einer Religion, sei es dank eines Religionsersatzes, sei es einfach dank der religiösen Kraft des uns bergenden und alles verhüllenden Alltags), dann haben wir die echte religiöse Stimmung verloren. Aber vielleicht ist diese Formulierung selbst aus der Stimmung der Bodenlosigkeit entstanden.

Wie gesagt, jeder kennt diese Stimmung gut aus eigener Erfahrung und auch aus einer Reihe von öffentlichen Manifestationen – zum Beispiel den Manifestationen des Surrealismus, der Existenzphilosophie und des absurden Romans und Theaters. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Stimmung der Bodenlosigkeit alle kulturellen Artikulationen beherrschte – zum Beispiel die Zeit der ausgehenden Antike, die des ausgehenden Mittelalters und die Jetztzeit. Es sind Zeiten des Umbruchs. In solchen Artikulationen der Bodenlosigkeit (zum Beispiel den Filmen Bergmans) erkennt man sich selbst zwar gut, aber zugleich dienen diese Artikulationen auch dem Zweck, die eigene Lage zu verdecken. Sobald nämlich die Bodenlosigkeit ein öffentliches Thema wird, ist sie es nicht mehr. Sie ist eine Erfahrung der Einsamkeit und zerfließt, wenn öffentlich besprochen, zu leerem Gerede. Sie ist grundsätzlich antikulturell und kann daher nicht zu Kulturformen erstarren.

Man kann die Erfahrung der Bodenlosigkeit in Literatur, Philosophie und Kunst nicht niederschlagen, ohne sie zu verfälschen. Man kann nur versuchen, sie in diesen Formen zu umschreiben, sie einzukreisen und so einzufangen. Oder aber man kann versuchen, sie direkt zu bezeugen, indem man autobiographisch seine eigene Lage schildert, in der Hoffnung, dass sich in der Schilderung andere erkennen. Das eigene Leben wird dann sozusagen zu einem Laboratorium für andere, um die Lage der Bodenlosigkeit von außen erkennen zu können. Das, und hoffentlich nicht Eitelkeit und Selbstbehauptungstrieb, ist das Motiv.