Was als gewohnheitsmäßige Routine in Ritualen (z.B. Vogeltanz) sichtbar wird, ist für Deleuze und Guattari genuin ein rhythmisches Ereignis vor seiner Territorialisierung, d.h. in einem ephemeren Zustand absoluter Losgelassenheit. Milieu definieren die Autoren dabei als einen Block aus Raum und Zeit, der durch periodische Wiederholung der Komponenten gebildet wird. Milieus wechseln daher unentwegt, gehen ineinander über und sind offen fürs Chaos, heißt es dort.
Das einzige Gegenmittel ist der Rhythmus, der wiederum mit dem Chaos einen Bereich teilt: Den Übergang zwischen den Zuständen, also den Raum zwischen zwei Milieus, in dem wechselseitige Codierung stattfindet. »Was mir gehört, ist in erster Linie mein Abstand, ich besitze nur Abstände.« (Deleuze/Guattari).
Diesen Zwischenraum in der Balance aus Ordnung (Rhythmus) und Chaos setzt als Prinzip die Rauminstallation »Milieu« von Jörg Staeger in Szene, weitgehend ohne dingliche Bindung und gänzlich ohne sprachliche Hilfskonstrukte, die in ihrer linearen Wortanreihung ohnehin nicht in der Lage sind, ein vielschichtiges System wiederzugeben.
Und gerade wenn es sich um rhythmische Ereignisse handelt, sind audiovisuelle Möglichkeiten den sprachlichen weit überlegen. Zumal wenn Rhythmus und Ordnung als ein Prinzip der Abstände verstanden wird.
Die Videoinstallation von Joerg Staeger ist ein Experiment, Projektionen als Lichtskulptur im Raum erlebbar zu machen. Fünf transparente, kaum wahrnehmbare Projektionsflächen werden von Bildern durchdrungen, fangen sie auf, lassen sie aber zugleich passieren, um sich in weiteren Schichten mit anderen Bildern zu neuen Ansichten zu verbinden.
Zwischenräume laden Besucher dazu ein, die Raumskulptur zu begehen, Teil von ihr zu werden, und diese in der Durchdringung der Bilder mit dem eigenen Körper zu beeinflussen.
Projiziert werden keine reellen oder festgefügten Bilder. Es sind vordefinierte grafische Formen und Strukturen in Schwarzweiß, die vom Computer nach programmierten Regeln sichtbar generiert werden, gesteuert von den Sounds des Komponisten Markus Muench.
MATERIE IV ist aber auch keine Komposition im klassischen Sinne. »Die Musik molekularisiert die Klangmaterie und kann auf diese Weise unhörbare Kräfte wie die Dauer oder die Intensität einfangen. Der Dauer einen Klang geben.« (Deleuze/Guattari)
Markus Muench greift in seiner etwa achtminütigen Komposition diese Gedanken analytisch auf. Fieldrecording-Klänge bzw. –Geräusche wurden hierzu mikrotonal zerlegt und in einen neu geordneten Zustand gebracht. Diese systemische Musik in 8-Kanal-Surround-Beschallung manipuliert mit ihren Impulsen die Bildmodellierung. Sie dient also der Beeinflussung der Bewegtbild-Sequenzen, die Ordnung und Chaos visualisieren und wiederum mit den Klängen zu einem erlebbaren Prinzip zusammenschmelzen. Zusatzreize sind dabei zur weitmöglichsten Deterritorialisierung auf ein Minimum reduziert.
»Das molekulare Material selber ist derartig deterritorialisiert, dass man nicht mehr, wie bei der romantischen Territorialität, von Ausdrucksmaterien sprechen kann. Die Ausdrucksmaterien machen einem Auffang- oder Vereinnahmungs-Material Platz. Und die zu vereinnahmenden Kräfte sind jetzt keine Kräfte der Erde mehr, die noch eine große expressive Form konstituieren, sondern sie sind heute Kräfte eines energetischen, formlosen und immateriellen Kosmos. […] Die postromantische Wende bestand darin, dass das Wesentliche nicht mehr in den Formen, Materien oder Themen enthalten war, sondern in den Kräften, in der Dichte und in der Intensität.« (Deleuze/Guattari)
Bei der Vernissage am 7. September 2012 sowie auch bei der Finissage am 14. September 2012 war Markus Muench mit Live-Elektronik zu hören, mittels Lichtprojektionen von Joerg Staeger inszeniert.